Montag, 04.03.2024

Bernhard Neuenschwander, der Mann für alle Felle

Es gibt nichts, was es nicht gibt. Sogar Lammfell-Imitate aus Plastik. Bernhard Neuenschwander kann darüber nur lächeln. Seine Familie gerbt und handelt Felle seit dem vorletzten Jahrhundert. In Kellern in Oberdiessbach BE lagern Zehntausende davon.

Oberdiessbach? Auf Anhieb können ausserhalb des Kantons Bern wohl die Wenigsten sagen, wo der 4000-Seelen-Ort genau liegt. Das war schon so, als Gottlieb Neuenschwander (1835-1903) nachts um zwei Uhr den Revolver in die eine, das Geld in die andere Tasche steckte und sich dann auf Schusters Rappen zu den Märkten von Thun BE, Bern oder Langnau BE begab. Man wusste nie, welches Gesindel sich 1862 auf den Wegen herumtrieb und dem Begründer der Neuenschwander Fell-Dynastie ans Leder respektive an den Geldsäckel wollte.

Oberdiessbach? Wer in der Schweiz irgendwas mit Fellen zu tun hat, für den ist der Ort am Rande des Emmentals nicht unbekannt, sondern der Nabel der Welt. Mehr Felle und Häute von Fuchs und Haas, Reh, Hirsch oder eben Lamm lagern wohl nirgendwo sonst. «Allein hier im Keller sind es mehrere Zehntausend», sagt Bernhard Neuenschwander, der das Familienunternehmen in der fünften Generation führt. «Aber heute gehört kein Revolver mehr zum Geschäft und zu Fuss laufen wir auch nicht mehr auf die Märkte», meint Neuenschwander trocken. Ein Teil des Verkaufs findet über Transgourmet/Prodega statt, welche Lammfelle aus Oberdiessbach im Sortiment hat.

 

DIFFIZILE ARBEIT

Die Gerberei im Emmental ist modern eingerichtet. Und vor allem verfügen die zehn Mitarbeitenden über ein enormes Fingerspitzengefühl. «Das muss auch so sein», erklärt Neuenschwander. «Jede Tierhaut ist anders und muss individuell behandelt werden. Meine Leute und ich können schon allein durch die Beschaffenheit der Wollstruktur erkennen, ob ein Fell aus der Natur oder einer Zuchtfarm stammt. Auf letztere verzichten wir aus Überzeugung.» Kommen die rohen Felle nach Oberdiessbach, werden sie als erstes gewässert. Das heisst, sie liegen im Wasser bei rund 30 Grad und verlieren dabei Schmutz und Eiweisse. Danach werden mit Hilfe der Entfleischungsmaschine – die heisst wirklich so – Fleischpartikel und Fettreste entfernt. Etwas vom diffizilsten ist das Dünnschneiden des Felles. «Das können nur Leute, die viel Geschick, Konzentrationsvermögen und langjährige Erfahrung haben», sagt der Firmenchef. «Bei diesem Arbeitsschritt wird die Lederschicht eines Felles auf die optimale Dicke zugeschnitten. Nimmt man zu wenig, wird das Fell starr und brüchig. Schneidet man es zu dünn, werden die Haarwurzeln verletzt und es entstehen mit der Zeit kahle Stellen.»

 

LANGE LEBENSZEIT

Apropos Zeit. «Ein gutes Lammfell hat eine Lebenszeit von zehn bis zwanzig Jahren – je nachdem, wie es behandelt wird», weiss Neuenschwander aus Erfahrung. Lammfelle machen fast alles mit, sie sind im Prinzip selbstreinigend. Wobei jetzt vielleicht Rotweinflecken nicht unter dieses Prinzip fallen. Wenn ein Fell dann nach vielen, vielen Jahren doch ein bisschen gebraucht aussieht, ist das kein Problem. In Oberdiessbach werden Lammfelle auch aufgefrischt. Für Laien sind solche Felle nicht von neuen zu unterscheiden.

 

30 ARBEITSGÄNGE

Aber noch ist es ja nicht so weit, noch wird gegerbt. Beim letzten Gerbgang liegt das Fell in einem Stahlhaspel und wird alle zwei Stunden zwei Minuten lang bewegt. Dabei können die chemischen Gerbstoffe eindringen und das Fell geschmeidig und dehnbar machen. Es folgen weitere Behandlungen, etwa das Zuschneiden, das Reinigen oder das Kämmen. «Nach ungefähr 30 Arbeitsgängen sieht das Lammfell so aus, wie es die Kunden und Kundinnen im Verkaufsgeschäft vorfinden: fein, seidig, luftig und wohlig einladend», so der Fachmann. Das hat damit zu tun, dass ein Lammfell Natur pur ist und immer mal wieder Konkurrenz von Kunstfellen bekommt. Neuenschwander ist deswegen nicht bange. «Richtige Lammfelle geben nicht nur warm im Winter, sie regulieren die Temperatur auch im Sommer. Sie nehmen Feuchtigkeit auf und vermitteln ein unnachahmliches Gefühl, das durch nichts zu ersetzen ist. Schon gar nicht durch Plastik.»

 

 

BERNHARD NEUENSCHWANDER

Alter: 58
Lieblings-Hockey-Club: SCL Tigers
Bevorzugtes Essen: Rindszunge mit Kartoffelstock
Beeindruckt von: Der Langlebig- und Nachhaltigkeit der Fell- und Lederwaren
Empfehlenswerte TV-Serie: Einstein

 

 

Text: Franz Bamert
Foto: David Birri