Montag, 02.06.2025

Das Chamäleon der Getränkebranche

Ob sprudelnd im Glas oder direkt aus der Flasche: Cider hat das Zeug zum Sommer-Trendgetränk. Warum das so ist, erklärt Cider-Experte Paolo Spagnolo.

An einem warmen Sommerabend würden viele ein kühles Bier bestellen. Warum trinken Sie Cider?

Nichts spricht gegen ein kühles Bier. Aber mit Cider habe ich eine breite Auswahl an Geschmacksrichtungen und Komponenten, die ich zu meinem Essen kombinieren kann. Nur ein Beispiel: Wenn fetthaltige Wurstspezialitäten wie Chorizo auf dem Grill brutzeln, bieten sich spanische Sidras – also Cider – an. Diese weisen zumeist einen hohen Säure- und Bitternotenanteil auf. Das lässt sich sehr gut kombinieren.

 

Cider eignet sich fürs Food-Pairing?

Unbedingt. Vom Aperitif vor dem Essen über den Hauptgang bis zum Dessert kann Cider ein Essen gut begleiten. Man bewegt sich vom Rohstoff Apfel ausgehend immer zwischen den Achsen Säure, Süsse und Bitterkeit. Und kann diese Geschmacksrichtungen dem jeweiligen Gang entsprechend anpassen.

 

«Früher war die Schweiz tatsächlich ein Cider-Land.»

 

Was mögen Sie an Cider am liebsten?

Die Frische! Ich mag diese markante Säure und empfinde sie als durstlöschend und angenehm. Aber am Ende geht es darum, dass die Komponenten Süsse, Säure, Bitterkeit schön ausbalanciert sind.

 

Was ist die «Cider-Revolution»?

In Fachkreisen spricht man tatsächlich seit den Nullerjahren von der Cider-Revolution. Ausschlaggebend dafür war unter anderem der «Magners-Effekt». Der irische Cider-Hersteller Magners lancierte im Sommer 2006 eine geschickte Werbekampagne. Während der damals stattfindenden Fussball-WM wurde überall Cider in Gläsern mit viel Eis ausgeschenkt. Die Flaschen blieben gut sichtbar auf dem Tisch. So mauserte sich Cider in Grossbritannien zum erfrischenden Sommergetränk schlechthin. Das steigerte die Popularität des Getränkes bei jüngeren Generationen enorm. Und noch etwas spielt eine Rolle beim Cider-Boom. Während den vergangenen 20 Jahren sind in den USA und Europa unzählige neue Cider-Produzenten aufgetaucht. Sie arbeiten aus einer Craft-Perspektive.

 

Kann man das mit der Craftbeer-Bewegung vergleichen?

Genau. Jetzt kommt die Zeit, wo Cider etwas Ähnliches durchmacht. Die Craft-Bewegung sucht das nächste Level. Rund um New York werden riesige Apfelplantagen wieder aufgebaut und sogenannter «Farmhouse-Style-Cider» produziert, weil die Menschen dort traditionellen, coolen Cider haben möchten. Es ist aber auch ein internationales Thema, weltweit und ebenso in der Schweiz entstehen neue Betriebe.

 

Die Schweiz als Apfelland wäre doch eigentlich prädestiniert dafür, eine Cider- Kultur zu entwickeln.

Früher war die Schweiz tatsächlich ein Cider-Land. Heute ist Cider im Vergleich zu Bier ein Nischensegment. Die hiesige Bevölkerung trinkt jährlich im Durchschnitt rund 50 Liter Bier und nur rund eineinhalb Liter Cider. Aber ich bin überzeugt davon, dass Cider grosses Potenzial hat.

 

Was macht Sie so sicher?

Cider ist das Chamäleon der Getränkebranche. Ob in der Badi, nach dem Feierabend, zum Essen, im Ausgang oder in der Bergbeiz – es gibt für all diese Momente das passende Cider-Produkt.

 

Welche Sorten werden in der Schweiz verwendet?

Wir von der Mosterei Möhl verwenden 50 bis 60 verschiedene Sorten. Darunter Gravensteiner, Boskop, Bohnapfel oder Thurgauer Weinapfel.

 

PAOLO SPAGNOLO

Cider-Experte

Seit 2018 ist Paolo Spagnolo (40) Geschäftsführer und Kurator des Schweizer Mosterei- und Brennereimuseums der Mosterei Möhl AG in Arbon TG. Davor war er in diversen Funktionen während vieler Jahre in der Getränkebranche tätig. Paolo Spagnolo ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er wohnt mit seiner Familie in Au SG.

 

Vergorener Apfelsaft

Man nennt ihn Cider in England, Cidre in Frankreich sowie Saft und Most in der Schweiz: den vergorenen Apfelsaft. Die Grundschritte der Herstellung unterscheiden sich kaum. Man nimmt den Rohstoff Apfel, zerkleinert und presst ihn und reichert den daraus gewonnenen Saft mit Hefe an, die den Zucker im Apfelsaft in Alkohol umwandelt. Die Gärung dauert gut eine Woche. Das Endprodukt kann als Apfelwein oder – etwas international angehaucht – als Cider bezeichnet werden und weist in der Regel einen Alkoholgehalt von drei bis fünf Prozent auf. Cider-Getränke können sehr trocken bis süss schmecken, klar oder trüb sein, mit oder ohne Kohlensäure. Analog zum Sommelier nennt man Fachleute im Bereich Cider Pommelier.

 

 

 

Text: Rico Steinemann

Foto: Valentina Verdesca